Album Review: A Ghost In Every Bar

Jazzthetik

Guido Diesing, November/December 2012

****½

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Etwas noch nicht zu kennen, kann so ein Glück sein. Aus dem simplen Grund, dass man im Gegensatz zum Kenner den beglückenden Moment des Entdeckens noch vor sich hat. Wie gemacht für solche Momente ist die neue CD von lan Shaw. Zum einen ist der Waliser Jazzsänger, Pianist und Comedian hierzulande selbst längst noch nicht so bekannt, wie es seiner Klasse entspräche. Zum anderen singt er auf A Ghost In Every Bar ausschließlich Songtexte von Fran Landesman. Und bei diesem Namen dürfte die Zahl derer, die kennerhaft nicken, noch überschaubarer sein. Die in New York geborene Dichterin und Songtexterin, die lange in London lebte, wo sie im vergangenen Jahr 83-jährig starb, wurde vor allem mit den Texten zu zwei Jazzstandards bekannt, die sie schon in den 50er Jahren geschrieben hatte: "Ballad of the Sad Young Men" und "Spring Can Really Hang You Up the Most", das von Ella Fitzgerald und Betty Carter bis zu Barbra Streisand und Bette Midler so häufig gecovert wurde, dass Landesman es irgendwann selbst ermüdend fand. Bis sie die Version von lan Shaw hörte, mit dem sie ohnehin eine Freundschaft verband. Nach ihrem Tod löst er nun das Versprechen ein, ihren Texten eine komplette CD zu widmen.

Shaw ist der pefekte lnterpret dieser Lieder, die oberflächlich betrachtet klingen wie auf bislang überblätterten Seiten des Great American Songbook gefunden. Und doch sind sie inhaltlich und textlich moderner und bilden die ganze Komplexität menschlicher Charaktere und Beziehungen ab - im einen Moment geistreich und humorvoll, im nächsten melancholisch und widersprüchlich. Landesman liebte den überraschenden Umgang mit den sprachlichen Ebenen und stellte scheinbar Banales gleich neben Aphoristisches. Sie spielte mit Worten ("Don't blame me for killing time, when time is killing me") und Reimen, etwa in "Down", einer Ode an die lustvolle Selbstzerstörung: "You continue to enjoy yourself / while trying to destroy yourself". Zu den Höhepunkten der CD gehört neben dem tieftraurigen "Only Why No More" die lnterpretation von "Scars", einem der Lieblingsgedichte von Landesman. Es beschreibt die Narben, die jeder mit sich herumträgt, und den Mut, den es braucht, sie nicht zu verstecken, und gelangt in wenigen Zeilen völlig unpathetisch von der Narbe am Knie, die vom Sturz mit dem Fahrrad herrührt, zur Narbe auf der Seele, die der Verlust eines Kindes verursacht.

Am Klavier sitzt mit Simon Wallace Landesmans langjähriger musikalischer Partner, der über 400 ihrer Texte vertont hat und hier als Liedbegleiter alter Schule Balladeskes ebenso souverän meistert wie swingendes. Und lan Shaw ist einfach ein Sänger, der auf direktem Weg das Herz des Hörers erreicht. ln spürbarer Seelenverwandtschaft mit derTexterin legt er die Traurigkeit frei, die unter der Oberfläche stets mitklingt: "My heart tries to sing, so you won't hear it crying".